Weil er so einfach ist und zugleich auf so schlaue und wahre Weise unser Dasein beschreibt, mit all seinen Vor- und Nachteilen: Das Zu-Fuß-Gehen definiert unseren Aktionsradius und unsere Geh-Geschwindigkeit ist jene, die unserem Wahrnehmungsvermögen am besten entspricht – wir gehen und sehen. Und das heißt im Umkehrschluss: Alles was uns schneller bewegt und unseren Radius erweitern würde – Autos, Züge, Flugzeuge – übersteigt unsere sinnästhetischen Fähigkeiten. Das Tempo ist zu hoch, um den Wasserfall am Wegesrand zu sehen, die Magnolien zu riechen und den Ruf zu hören, der uns vielleicht davor warnt, unkontrolliert ins Verderben zu schlittern. Ja, physiognomisch gesehen sind wir Fußgänger und Läufer. Nur eine Frage treibt mich bei diesen Überlegungen seit Jahren um: Wie ist die Fortbewegung auf einem Fahrrad physiognomisch einzuordnen? (Ransmayrs Roman spielt im fahrradunfreundlichen Eis Spitzbergens und lässt diese Frage daher unbeantwortet)
Einerseits erweitert ein Fahrrad den menschlichen Aktionsradius auf eine Weise, die es fast unerheblich macht, ob eine Luftlinie nun eine Linie ist oder ein Weg. Andererseits ist die Geschwindigkeit oft zu hoch, um die kleinen Details dieser Welt wahrnehmen zu können.
Oder stimmt das alles gar nicht mehr? Muss man im Jahr 2016 nicht grundsätzlich über Geschwindigkeit nachdenken? Sie vielleicht sogar neu definieren?
Ransmayrs Satz ist mittlerweile 32 Jahre alt, 32 Jahre, während der sich die Welt grundlegend verändert hat. Man braucht sich nur mal eine Fernsehserie aus dieser Zeit, etwa „Kir Royal“ oder die „Piefkesaga“ anzusehen, um festzustellen, dass sich jede einzelne Folge anfühlt wie eine einzige Superzeitlupe, die sich verpflichtet fühlt, dem Zuseher jeden noch so kleinen Vorgang haarklein zu erklären (und wer im Vergleich dazu einmal „24“, „Breaking Bad“ oder „Homeland“ gekuckt hat, wird in der Entschleunigung der 1980er-Serien einen Verstoß gegen die Genfer Konvention erkennen). Aber das darf man nicht der „Piefkesaga“ oder „Kir Royal“ anlasten. Beide Serien sind großartige Fernsehkunstwerke, nur ihre Erzählgeschwindigkeit passt nicht mehr in unsere Gegenwart. Im Sekundentakt nehmen wir heute Informationen auf, kommentieren sie, wir posten, chatten, twittern und liken, und wenn wir auch nur zwei Minuten auf den Bus oder die Bahn warten, atmen wir nicht tief durch oder denken nach, sondern zücken reflexhaft das Smartphone. Wir haben uns ganz einfach an ein neues Tempo gewöhnt.
Aber das passiert uns nicht zum ersten Mal. Schon das 19. Jahrhundert und die Industrialisierung hatte die ganze Welt motorisiert und beschleunigt. Auch damals muss es sich für die Menschen angefühlt haben, als hätte jemand auf den Vorspul-Knopf gedrückt. Am Anfang des Jahrhunderts schaukelten sie in der Postkutsche dahin und mussten eine Menge Zeit einplanen, um voran zu kommen. Am Ende setzten sie sich in eine Bahn und fuhren sogar bis hinauf auf Gipfel, die zu besteigen sie zu Beginn des Jahrhunderts noch für völlig ausgeschlossen gehalten hatten. Allerdings, das sollte man nicht ganz außer Acht lassen, behagte die erhöhte Reisegeschwindigkeit nicht allen: Schon in der Kutsche stellte mancher Reisende fest, dass seine Augen und sein Verstand beim Blick aus dem Fenster und den schnell wechselnden Eindrücken nicht mehr hinterherkamen.
Und das bringt uns zurück zum Fahrrad, das zu dieser Zeit (vor genau 199 Jahren, um genau zu sein) erfunden wurde und seinen Teil zur Geschwindigkeitsrevolution beitrug. Es ist vielleicht kein Zufall, dass im superschnellen 21. Jahrhundert auch das Fahrrad (und das umfasst die Spanne vom Fixie zum Tourenrad über das Mountainbike und Rennrad bis hin zum e-Bike) einen Hype erfahren hat, den man vor zehn Jahren ebenso wenig für möglich gehalten hat, wie die Entwicklung von Facebook. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Fahrrad in Zeiten, in denen wir in der hochgeschwinden (social) medialen Digitalwelt denken und uns zugleich nach Achtsamkeit, Naturverbundenheit, Meditation und Yoga sehnen, die beste Lösung für diesen Konflikt bietet. Radfahren ist sozusagen die Entsprechung unserer digitalen Wahrnehmungsgewohnheiten und zugleich ihr analoger Ausgleich in der echten Welt. Oder, anders gesagt: Als Fußgänger langweilen wir uns und vermissen die Abwechslung der Menschen, der Landschaft und des Wetters. Und als Auto-, Zug- oder Busfahrer rauschen wir am Leben vorbei und vermissen die sportliche Bewegung.
Und dazwischen ist also das Fahrrad, das es den Menschen erlaubt, sich mit bloßer Muskelkraft schneller und weiter fortzubewegen als es ihre Physiognomie vorgesehen hat. Man kann heute stundenlang mit Tempo 20 dahin radeln und erweitert seinen Tagesradius spielend auf 60, 80 oder 100 Kilometer – spielend zumindest dann, wenn die Muskelkraft von einem e-Bike-Motor ein wenig unterstützt wird. Man kann ganze Regionen erkunden, Küstenlinien erfahren, Gebirge überqueren und ist dabei stets nah am Leben, an den Menschen und an der Natur. Man spürt den Fahrtwind und die Temperatur, riecht den Duft der Blumen, Meere und Berge, spürt über die Vibration des Rades die Beschaffenheit des Bodens – und kann jederzeit anhalten, wenn man sich etwas genauer ansehen möchte oder mit jemandem sprechen will. Der Hype des Fahrrades, vielleicht hat er gerade erst begonnen. Und vielleicht sind wir, ohne es richtig zu bemerken, physiognomisch schon längst Radfahrer geworden.
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