“Die Gegend im Baltikum hat mir so gut gefallen. Da würde ich glatt noch mal hinfahren.”
Dietlind Castor, Autorin
Das Baltikum, südlich von Finnland und parallel zu Südwestschweden, punktet so wie die skandinavischen Länder mit einer schier endlos erscheinenden Ostseeküste, vielen Quadratkilometer Wald und Städten, die mit ihrem mittelalterlichen Flair verzaubern. Autorin Dietlind Castor war vor Ort und hat sich selbst ein Bild von der ASI Wanderreise ins Baltikum gemacht. Erfahrt in diesem Beitrag, was sie dabei erlebt hat und welche Highlights euch in Estland, Lettland und Litauen erwarten.
Bilder und Text: Dietlind Castor
Wenn sich Nationalpark an Nationalpark reiht: Wandern im Baltikum
Aija Lubeja-Sube, Wander-und Gästeführerin, kommt aus Riga und begleitet zwei Wochen eine Gruppe wanderfreudiger ASI Gäste durch alle drei baltischen Staaten. Den großen Bus fährt der Litaue Virgilius, kurz Virgis genannt. Da lettisch und litauisch unterschiedlich Sprachen sind, verständigen sich Aija und Virgis auf Russisch. Erstere verfügt außerdem über einen großen deutschen Wortschatz, wenn auch nicht ganz frei von reizend klingenden, grammatikalischen “Fehlerchen“. Mit einem süßen „Halloo, halloooh“ flötet sie während längerer Busstrecken ins Mikrofon und weckt damit auch einige Eingeschlafene, um dann über Land und Leute zu berichten.
Litauens wichtigste Religionen: Katholizismus & Basketball
In Litauen, dem größten und südlichsten baltischen Staat, leben drei Millionen Menschen. Sie erklärten 1990 als erste ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die Hauptstadt Vilnius, deren Altstadt zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, hat allein 40 überwiegend katholische Kirchen. Im einzig verbliebenen Stadttor, dem Tor der Morgenröte, befindet sich eine kleine Kapelle mit dem Bildnis der Barmherzigen Muttergottes, das zahllose Gläubige anzieht. Katholizismus und Basketball seien die beiden wichtigen Religionen, sagt Aija. So nimmt es nicht Wunder, dass die großartige Basketballhalle auf einem jüdischen Friedhof steht. Vor Vilnius war das 30 km entfernte Trakai Hauptstadt. Auf der Fahrt dorthin sind häufig Störche zu sehen, die litauischen Nationalvögel. Die Sehenswürdigkeit Litauens schlechthin ist die in eine waldreiche Seenlandschaft eingebettete Wasserburg von Trakai, die einzige in ganz Osteuropa. Der Zugang zur Burganlage aus dem 14. Jahrhundert erfolgt über einen langen Holzsteg. An Sommerwochenenden kommen nicht nur die Touristen hierher, sondern auch Erholung Suchende aus Vilnius, um jegliche Art von Wassersport zu betreiben.
Viele Flüsse, noch mehr Seen und die berühmte Kurische Nehrung
Für Wanderungen im Baltikum bieten sich die vielen Nationalparks an, die alle noch zur Zeit der Russen in den 70er Jahren gegründet wurden. Litauen hat 4.400 Flüsse und Bäche, nur 17 davon sind länger als 100 Kilometer. Dazu kommen 6.000 Seen. Auf fast menschenleeren Wald- und Uferwegen führt Aija uns durch den Aukstaitjos Park entlang idyllischer Seen.
Anschließend folgt eine gut 400 Kilometer lange Busreise mit Fährüberfahrt von Klaipedia zur Kurischen Nehrung, ebenfalls UNESCO Weltkulturerbe dank ihrer
einzigartigen Dünen-und Küstenlandschaft. Die Kurische Nehrung ist ein 100 Kilometer langer Landstreifen, von dem heute 52 km zu Litauen und der Rest zu Russland (Oblast Kaliningrad) gehört. Die Nehrung trennt das Haff mit seinem Süßwasser von der Ostsee. An der schmalsten Stelle ist sie nur 300 Meter und an der breitesten vier Kilometer breit. Sie besteht aus Sand, der eine fantastische Dünenlandschaft bildet. Man glaubt, in der Sahara zu sein, schrieb Thomas Mann, der im Fischerdorf Nida, früher Nidden, ein hübsches Sommerhaus hatte. Heute pflegt es die Erinnerung an den Literatur-Nobelpreisträger. Zum Haff hin liegen beschauliche Dörfer mit rotbraunen und blauen Häusern, auf der anderen Seite der Nehrung riesige Strände zur sich wild gebärenden Ostsee. Von Nida führen Treppen hinauf zu Hohen Düne, einer der höchsten Europas; sie ist mit Strandhafer und rotblühende Heckenrosen bewachsen. Wegen der Abholzung entstanden einst Wanderdünen, die ganze Dörfer unter sich begruben. Durch Bepflanzung hat man sie zum Stillstand gebracht. Auf schmalen Sandwegen queren wir Heidelandschaft und Kiefernwälder- Tausengüldenkraut leuchtet zwischen sich im Wind wiegenden Gräsern. Bis wir schließlich den breiten Strand der Ostsee erreichen, in deren Wellen sich trotz 16 Grad Temperatur etliche Badende tummeln.
Skurril: Berg der Kreuze in Litauen
Auf dem Weg nach Lettland gibt’s einen letzten Stopp in Litauen, am Berg der Kreuze. Dabei handelt es sich um eine zehn Meter hohe Erhebung mit tausenden Kreuzen aller Größen und Formen. „Hinter jedem Kreuz steht ein Schicksal“, sagt Aija zu dieser nationalen Gedenkstätte, von der aus Papst Johannes Paul II. das ganze Land gesegnet hatte.
Lettland: Barockschlösser und russischer Flair
Bevor wir nach Lettland kommen, füttert Aija uns mit Hintergrundinfos zu ihrem Heimatland. Lettland ist etwas kleiner als Bayern und der erste Höhepunkt nach der Grenze ist das Barockschloss Rundale, das auch als „Versailles des Baltikums“ bezeichnet wird. Aija führt uns so durch das dreiflügelige und zweistöckige Schloss (1736-1740 erbaut), als ob wir persönliche Gäste des ehemaligen kurländischen Hausherrn und Adligen Ernst Johann von Biron wären. Dessen Stararchitekt Francesco B. Rastrelli war durch zahlreiche Prachtbauten in St. Petersburg bekannt. Viel Zeit, sein Schloss Rundale zu genießen, hatte Biron nicht, da er nach Sibirien verbannt wurde. Für „seine Gäste“ wiederum bleibt leider keine Zeit, die wunderschöne barocke Parkanlage aufzusuchen. Denn: Riga wartet. Die Landeshauptstadt von Lettland hat etwa eine Million Einwohner und ist die größte Stadt des Baltikums. Als Hafen-und Handelsplatz bot Riga einst deutschen Kaufleuten ein Tor zum Osten, sie prägten die Stadt. Bis 1891 war Deutsch Amtssprache. Nachdem sich die Letten auf ihre Nationalität besonnen hatten, konnten sie nur zwanzig Jahre ihre Unabhängigkeit wahren. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kamen die Sowjets, dann die die Deutschen und schließlich wieder die Sowjets. „Die Russen haben Riga befreit, aber vergessen wieder heimzugehen“, bemerkt Aija. Trotz der Unabhängigkeitserklärung am 21. August 1991 leben weiterhin viele Russen in der Stadt. Riga, Kulturhauptstadt 2014, zeigt in seiner Altstadt auf engem Raum bemerkenswert viele Stile, von der Romanik bis zum Historismus. Besonders gelungen ist die Wiederherstellung des Schwarzhäupterhauses auf dem Rathausplatz, das 1941 durch den Beschuss der Deutschen völlig zerstört war.
Auch von der Petrikirche, in ihren Formen ein typisches Beispiel der norddeutschen Backsteingotik, war nicht mehr viel übrig. Heute dient sie als Museum. Sehenswert ist vor allem das Jugendstilviertel von Riga. Selten sind so viele fantastische Fassaden nebeneinander zu bewundern: 800 Jugendstilhäuser, geschmückt mit nackten schönen Frauen und Männern, mit Dämonen, Fratzen, Tieren und Sphinxen.
Gefüllt mit Legenden: der Gauja Nationalpark
Nur 60 Kilometer von Riga entfernt erreicht man den größten Naturschutzpark des Baltikums, den Gauja-Nationalpark. An seinem Rand liegt die kleine Stadt Sigulda, das „Herz der lettischen Schweiz”. Im Sommer ein idealer Ausgangspunkt für Wanderungen durch naturbelassene Urstromtäler entlang der träge entlang fließenden Gauja, mit 500 Kilometern der längste und schönste Fluss Lettlands. Es geht ziemlich auf und ab. Nicht immer sind gut begehbare Treppenwege vorhanden. Bei der Schwertritterburg Sigulda überbrückt eine von der Republik Georgien spendierte Seilbahn die tiefe Schlucht zum Schloss Krimulda. Nicht weit davon befindet sich die große Gutmannshöhle. In ihr entspringt eine Quelle, deren Wasser der Legende nach von einem guten Mann an Pilger als heilkräftig verteilt wurde. Laut Aija ist es gut für die Augen.
Esten sind anders
Der dritte baltische Staat ist Estland. „Esten sind anders als Balten“, behauptet Aija. Sie würden etwas langsamer reagieren. Wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, überlegen sie erst und sagen dann etwas gedehnt: “Normali“. Estnisch sprechen nur eine Million Menschen. Es ist eine schwierige finnisch-ugrische Sprache mit der Betonung auf der ersten Silbe und 14 Fällen. Estland hat etwas 3.800 km Ostseeküste und 1.500 Inseln sowie 1.400 Seen. Die Einwohnerzahl des ganzen Landes ist etwa die von München, aber die verfügbare Fläche 145mal so groß.
Ein Highlight: Wandern auf der Insel Vilsandi
Unser erstes Ziel in Estland ist die Stadt Kuressaare auf der Insel Saaremaa, das größte Eiland des Landes. Kuressaare erinnert an eine skandinavische Sommerfrische. Sie entwickelte sich rund um die mächtige mittelalterliche Burg, die mehr als 200 Jahre in deutscher Hand blieb. Mit eines der schönsten Erlebnisse ist die Wanderung auf der Vogelinsel Vilsandi im äußersten Westen von Saaremaa. Rund 30 Einwohner hat das neun Quadratmeter große Inselchen im Sommer. Zwei von ihnen holen die Wanderer mit Motorbooten ab. In der Ferne werden alte Bockwindmühlen sichtbar. Im hohen Gras blühen Orchideen, Margeriten und leuchtend blaue Felder von Glockenblumen, außerdem viele Blumen, deren Namen uns unbekannt sind. Auf Kieferwald folgen Wacholderbüsche, schließlich wieder die Ostsee mit ihren rund geschliffenen Findlingen im flachen Wasser. Der alte, fast 40 Meter hohe Leuchtturm ist nicht zu übersehen. Sein Licht strahlt in der Nacht 18 Seemeilen weit. Vilsandi und die vielen Inseln und Inselchen rundherum bilden den Vilsandi-Nationalpark, in dem 250 verschiedene Vogelarten registriert sind.
Unterwegs im Lahemaa Nationalpark
Um den großen Lahemaa-Nationalpark zu erreichen, muss man zuerst wieder mit der Fähre aufs Festland. Vorbei an Windmühlen und endlosen Rapsfeldern geht es noch weiter in den Norden Estlands. Lahemaa bedeutet Buchtenland; es besitzt einzigartige Küsten-und Moorlandschaften, außerdem gut erhaltene Herrenhäuser. Sehr nobel wohnt man im Hotel von Sagadi, das sich im Nebengebäude des gleichnamigen Herrenhauses befindet. Das rosafarbene, 1749 erbaute Gutshaus in einem sehenswerten Park gehörte der deutschbaltischen Familie von Fock. Das Mobiliar der Adligen fand nach ihrer Vertreibung rasch „Abnehmer“. Jetzt sind die Räume wieder im Stil der Zeit eingerichtet. Bei der Vorstellung, wie sich hier das Leben der Herrschaften einst abspielte, gerate ich ins Träumen. Der verwunschene Teich auf der Rückseite des herrschaftlichen Gebäudes soll eine Geburtstagsüberraschung für die Dame des Hauses gewesen sein.
Wandern mal anders: Spaziergang übers Moor
Krönender Abschluss der 13tägigen Reise ist eine Wanderung im Moor. Ranger Raivo hat für jeden ein Paar Moorschuhe mitgebracht. Sie sehen aus wie Schneeschuhe, sind auch sicher als solche zu gebrauchen. Mit ihnen sinkt man nicht so schnell ein. Doch Reivo bleibt vorsichtshalber am Rande des Moores. Der eine oder andere stolpert schon mal über seine ungewohnt großen „Füße“, aber der Boden ist weich und federnd, wenn auch etwas feucht. Wollgras und farbige Torfmoose – kupferfarben, grau, gelb und grün – umranden stille Moorseen. Eine lustige Erfahrung, diese Moorwanderung.
Estlands Hauptstadt & Wolken im Sommer
Estlands Hauptstadt Tallin, früher Reval, hat sein mittelalterliches Erbe bewahrt. Die Spuren der Hanse begegnen einem auf Schritt und Tritt. Dank seiner Lage am Finnischen Meerbusen entwickelte sich eine blühende Hafen-und Handelsstadt. Bis nach Finnland sind es nur 80 Kilometer. Charakteristisch ist die Aufteilung in Ober- und Unterstadt. Die Oberstadt mit Burg, Schloss und Dom war dem Adel und Klerus vorbehalten. Von zwei Aussichtsterrassen hat man hier einen prächtigen Blick über die Dächer, Kirchen, Gassen bis zum Hafen, wo die dicken Kreuzfahrtschiffe ankern. Die Unterstadt war der Bereich der Kaufleute. Um das alte Rathaus mit seinem überschlanken achteckigen Turm herrscht wie eh und je reges Marktreiben.
Ein wahres Gewirr von Gassen mündet zwischen den spitzgiebeligen Häusern in den Platz. Auch wenn der Himmel im Moment noch südlich blau ist, können sich jederzeit dicke Wolken breit machen. „Solch großartige Wolkenstimmungen gibt es nur im Baltikum“, behauptet Aija und zitiert die emigrierte lettische Philosophin Zenta Maurina. Als sie gefragt wurde, was ihr in Deutschland fehlt, sagte sie: „Die Wolken im Sommer“.