Auf dem Balkan entsteht ein Wanderweg der Superlative: Die Via Dinarica verbindet sieben Länder, von Slowenien bis Albanien. Vorschusslorbeeren bekam das Leuchtturmprojekt zuhauf, die Natur ist hinreißend schön. Aber es bleiben Baustellen.
Text & Bilder von Florian Sanktjohanser
Der Mann der Via Dinarica
Wie man sich elegant durch die Latschenkiefern schlägt, lernte Kenan Muftić von den Bären. „Du musst auf den Ästen gehen“, ruft er mir zu, als ich gerade bis zum Hals in pieksenden Zweigen versinke. „Das ist viel schneller, als die Zweige beiseite zu schieben.“ Durchaus eine wichtige Lektion hier in den wilden Bergen Bosnien-Herzegowinas, wo der Weg schon mal in einem Dickicht verschwindet. Oder vor einem roten Schild mit Totenkopf abbiegt.
Muftić ist der Mann, den man auf dieser Tour an seiner Seite haben will. Der drahtige 44-Jährige mit dem Henriquatre-Bart kennt sich aus mit den roten Schildern, er räumte 15 Jahre lang Landminen in Angola und Äthiopien, in Tadschikistan und Mosambik. Und natürlich hier, in seiner bosnischen Heimat. Vor allem aber ist er einer der wenigen Menschen, die den neuen Superwanderweg über den Balkan ganz gegangen sind.
Drei Wege verbinden 7 Länder
Via Dinarica heißt das megalomanische Projekt, es verbindet sieben Länder, die sich nicht immer in Liebe zugetan sind. Als wäre diese Aufgabe nicht schwierig genug, entwarfen die Macher nicht einen Weg, sondern gleich drei. Die Gründe dafür waren natürlich politisch, aber dazu später mehr.
Die blaue Route folgt der Küste, die grüne Route führt durchs Landesinnere und soll vor allem Mountainbiker locken. Der Königsweg aber ist die weiße Route: 1.260 Kilometer über die höchsten Gipfel, das Rückgrat der Dinarischen Alpen. Ihr folgte Kenan Muftić, von der Postojna-Höhle in Slowenien bis zum Valbonatal in Albanien. 54 Tage brauchte er dafür, seine Route nahm er per GPS-Gerät auf. Aus den Daten wurde die erste Onlinekarte für den neuen Weg.
Alles andere als ein überlaufener Modeweg
Noch ist die Via Dinarica vor allem eine Vision, aber die völkerverbindende Idee brachte ihr Fördergelder und viele Vorschusslorbeeren. 2014 wählte das renommierte Outside Magazine aus den USA sie zum besten neuen Wanderweg, National Geographic adelte sie als einen der „Best Trips“ im Jahr 2017.
Von einem überlaufenen Modeweg ist die Via Dinarica trotzdem noch weit entfernt. Seit zwei Tagen sind Kenan und ich allein unterwegs, im Čvrsnica-Massiv, einem der schönsten Abschnitte. Wir wandern durch Buchenwälder und Karstfelsen, über Blumenwiesen und Grate mit fantastischer Fernsicht. Nur einmal treffen wir ein Paar aus Split, sofort beginnt eine herzliche Unterhaltung auf Serbokroatisch, Englisch und Französisch.
Das Leben in den Bergen
„Wir Bosnier haben keine Outdoorkultur wie ihr in Westeuropa“, erklärt Muftić bei einer seltenen Pause. „Die Berge werden mit dem harten, mühseligen Leben assoziiert, mit strengen Wintern, wilden Tieren, dem Überlebenskampf.“ Und dem Krieg.
Dabei gibt es durchaus eine Wandertradition, begründet von den Österreichern, mit 120 Jahre alten Alpenvereinen und einem Netzwerk an markierten Wegen, das ganz Jugoslawien durchzog. Sogar ein Fernwanderweg wurde unter Tito angelegt, sagt Muftić, von Sarajevo bis Montenegro. Ihm folgte Gordan Papac, ein kroatischer Bergfanatiker. Er schrieb 2006 als erster im Bergsteigerforum Summitpost über einen Traum namens Via Dinarica.
Die Idee von einem nachhaltigen Tourismus
„Das Ziel ist, die Höhepunkte der Dinarischen Alpen zu verbinden und einen nachhaltigen Tourismus zu etablieren“, sagt Muftić. Die Bewohner der Dörfer am Wegesrand sollen Zimmer und Mahlzeiten anbieten. „Die Leute werden durch die Wanderer nicht reich werden“, sagt Muftić. „Aber sie können genug verdienen, dass sie ein Interesse daran haben, die Natur zu schützen.“ Ohne Tourismus wären die Berge nur ungenutztes Land. Die Wälder würden abgeholzt, Minen angelegt, Staudämme gebaut.
Das Idyll der Via Dinarica
Was auf dem Spiel steht, zeigt mir Muftić auf dem Gipfel des Kleinen Villinac. Ringsum breiten sich bis zum Horizont wilde Berge aus. Bergadler kreisen, kein Skilift, kein Dorf, keine Fabrik stört das Idyll. Gleich unterhalb liegt – noch fotogener – eine der Ikonen der Via Dinarica: das Hajdučka vrata, ein Felsbogen von vier Metern Durchmesser, benannt nach den rebellischen Heiducken, die osmanische Karawanen ausraubten und noch heute als Volkshelden besungen werden. „Ich nenne es Stargate“, sagt Muftić.
Was fehlt, ist die Infrastruktur
Die Kulisse ist allerdings noch grandioser als im Fantasy-Film: waldgrüne Bergflanken und Felswände, die hunderte Meter in die Tiefe stürzen. „Unser Grand Canyon.“ Keine Frage, an Schönheit mangelt es der Via Dinarica nicht.
Die Hauptroute fädelt eine Kette von Naturjuwelen auf: die Karstschluchten des Velebit-Gebirges in Kroatien, das Durmitor-Massiv und die Schlucht der Tara in Montenegro, den Urwald des Sutjeska Nationalparks in Bosnien-Herzegowina. Was fehlt, ist die Infrastruktur. Wege müssen markiert und beschildert, die bisher arg rustikalen Schutzhütten müssen renoviert werden.
Ein Land zum Verlieben
„Mittlerweile ist es aber möglich, den Weg alleine zu gehen“, sagt Tim Clancy. 15 bis 30 Extremwanderer pro Jahr gehen die weiße Gipfelroute sogar am Stück. Clancy, 49, ist Entwicklungshelfer und einer der Väter der Via Dinarica. Der bärtige Amerikaner kam kurz nach dem Ende des Bürgerkriegs als Freiwilliger nach Bosnien, für drei Wochen, dachte er. Erst verliebte er sich in das Land, dann in eine Frau. Und blieb bis heute.
Überzeugt von dem Projekt
„Wir wollen Mauern niederreißen“, sagt Clancy, „und jeder bekommt ein Stück vom Kuchen.“ Beim Verteilen müsse man hier allerdings sehr sensibel sein. Deshalb wurden auch gleich drei Wege entworfen, um möglichst viele Regionen einzubinden. Bald soll auch der Kosovo dazu kommen, die Wege sind bereits markiert.
Trotz aller Hakeleien und Verzögerungen ist Clancy überzeugt, dass die Via Dinarica funktionieren wird. „Weil es ein Graswurzel-Projekt ist“, sagt er. „Viele Leute hier fühlen sich machtlos, alles ist korrupt, der demokratische Prozess eine Farce.“ Aber bei diesem Projekt hätten die einfachen Leute die Kontrolle, könnten selbst etwas verändern.
Reise in die Vergangenheit
Wie der nachhaltige Tourismus irgendwann laufen könnte, zeigt er in Lukomir. Die Fahrt dauert selbst im Geländewagen lang, auch weil wir zuletzt im Schritttempo rollen. Ein endloser Strom von Schafen hoppelt vor uns über den Feldweg, nichts zu machen. Als wir endlich ankommen, ist es fast dunkel. Umso stärker ist das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein. Die niedrigen Steinhäuser sind mit Schindeln gedeckt, keine Lampe erhellt die Erdstraße. Hirtenhunde kläffen, Zikaden zirpen. Und doch ist nichts wie früher.
Früher vs. heute
„Nur noch 30 Schäfer leben hier“, sagt Clancy, „vor 50 Jahren waren es zehn Mal so viele.“ Im Winter ist das Dorf seit einigen Jahren ganz verlassen. „Es ist fast in jedem Dorf die gleiche Geschichte“, sagt Clancy. „Die Jungen gehen in die Städte, nur die Alten bleiben an den Orten ihrer Kindheit. Diesen Prozess der Landflucht wollen wir stoppen. Oder sogar umkehren.“
Das Symbol der Hoffnung ist die alte Schule. Als Clancy 1998 das erste Mal hier herkam, war sie eine Ruine. Mit Entwicklungshilfe-Geldern wurde sie renoviert, jetzt können Wanderer in modernen Zimmern übernachten. Und Spezialitäten wie Uštipak probieren, die bosnische Pizzavariante mit Schafskäse.
Gastfreundschaft als Selbstverständlichkeit
Der Tourismus ist hier noch taufrisch. „Die Leute im Dorf haben jahrelang kein Geld angenommen“, sagt Clancy. „So ist das überall, immer wird man gleich zu Rakija und Kaffee eingeladen.“ Wie zum Beweis führt er mich durch die Nacht und in eine niedrige Stube, die aussieht wie ein Heimatmuseum: ein alter Ofen, eine Holzleiter auf den Dachboden, an der Wand ein Schaffell und ein Bild der Blauen Moschee.
Hier sitzt Vejsel Comor und lächelt über die neue Zeit. „Früher war Deutschland weit weg“, sagt der Schäfer, 82, mit der Knollennase. „Jetzt kommen sogar Australier hierher.“ Seine Frau Rahima, 75, gießt Mokka aus einer Kupferkanne nach, keine Widerrede, und Vejsel erzählt von den Radlern und Wanderern, die seit ein paar Jahren fast jeden Sommertag zu Besuch kommen. Rahima verkauft ihnen nun Socken, er geschnitzte Löffel und Gabeln. Die Enkelin kommt dazu, sie ist für die Sommerferien aus Sarajevo gekommen. „Mir gefällt es hier gut“, sagt sie, „meine Oma hat viel zu erzählen.“ Nur dass es kein Internet gibt, nerve doch arg. Nun ja, denkt der zivilisationsmüde Westler, der wüstenklare Sternenhimmel draußen vor der Tür ist auch nicht übel.
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