Sterben ist im Hinduismus eine komplexe Angelegenheit, denn der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Neuanfang. Damit dieser glückt, braucht man Feuer, Proviant und einen guten Draht zu den Göttern.
Text: Rosanna Battisti
Der Tod ist in der indischen Stadt Varanasi allgegenwärtig: Die heilige Stadt am Fluss Ganges in Indien ist der begehrteste Bestattungsplatz im Hinduismus. Denn wer hier stirbt und im erlösungsgewährenden Ganges seine letzte Ruhe findet, kommt dem Nirwana, dem ewigen Leben, einen großen Schritt näher. Und so kommen die Gläubigen nach Varanasi, um zu sterben und warten in sogenannten Sterbehäusern auf ihren Tod. Wer nicht hier stirbt und es sich leisten kann, lässt seine Überreste später einfliegen. Oder er sucht sich eine ähnlich begehrte Stätte für die letzte Ruhe in diesem Leben: Zum Beispiel den Tempel Pashupatinath bei Kathmandu in Nepal. Hier fließt der Fluss Bagmati, der in den Ganges mündet.
Auf dem Weg ins Nirwana
Der Tod folgt im Hinduismus vielen Ritualen. Diese sind notwendig, damit die Wiedergeburt gelingen kann. Im Hinduismus glauben die Menschen an Reinkarnation, der Körper wird lediglich als Gefäß für die Seele – genannt Atman – gesehen. Diese Seele muss nach dem Tod weiterwandern. In welcher Form man wiedergeboren wird, hängt davon ab, wie viel Karma durch gute Taten gesammelt werden konnte. Je mehr Karmapunkte, desto höher ist die Chance, als Mensch wiedergeboren zu werden. Ansonsten kehrt man als Tier zurück, als Pflanze oder gar als Stein. Das Ziel gläubiger Hindus ist es, diesen ewigen Kreislauf des Lebens, Sterbens und Wiedergeboren-werdens (genannt Samsara) zu durchbrechen und im Nirwana anzukommen. Diese Erlösung wird Moksha genannt.
Der Hinduismus hat seinen Ursprung in Indien und hat über eine Milliarde Anhänger. Noch heute sind rund 80 Prozent der Inder Hindus, in Nepal sind es rund 81 Prozent der Bevölkerung. Unter anderem ist Hinduismus auch auf Bali, Mauritius und Sri Lanka weit verbreitet. Die drittgrößte Religion der Welt ist bereits mehrere Jahrtausende alt. Vielleicht ist dieses hohe Alter auch der Grund dafür, dass der Hinduismus keine einheitliche Religion ist und es unzählige Strömungen gibt. Die Traditionen unterscheiden sich je nach Kaste oder Region. Diese Unterschiede machen auch vor dem Tod und den Bestattungsritualen nicht Halt.
Bloß nicht plötzlich sterben
Für Hindus ist der Tod keine unerwartete Angelegenheit, sie bereiten sich sorgfältig darauf vor – auch das erklärt die Sterbehäuser in Varanasi. Gläubige ziehen sich zurück und führen religiöse Rituale durch. Selbst die letzten Gedanken vor dem Tod sind wichtig für die Wiedergeburt, auch deshalb gilt ein plötzlicher Tod als ungünstig.
Üblicherweise werden Sterbende mit dem Kopf in Richtung Süden gebettet, denn hier wird der Totengott Yama vermutet. Manchmal wird noch ein Schluck des heiligen Wassers aus dem Ganges getrunken. An der Seite des Gläubigen sind Angehörige oder Priester, die ihm aus den heiligen Schriften vorlesen bis er sterben kann.
Sauber herausgeputzt zum Scheiterhaufen
Ist der Tod eingetreten, wird der Körper rituell gereinigt: Diese körperliche Reinigung symbolisiert zugleich die seelische. Sie wird üblicherweise von Familienmitgliedern durchgeführt und niemals Fremden überlassen. Die Leiche wird dafür auf einen Stuhl gesetzt und mit fließendem Wasser gewaschen. Dann wird der Leichnam gesalbt, mit butterähnlichem Ghee eingecremt und in Tücher gehüllt. Die Farbe der Tücher ist unterschiedlich – meist sind sie weiß, in Nepal oft auch gelb. Einig sind sich Hindus aber darüber, dass die Tücher möglichst schlicht und ohne Muster sein sollen. Auch Schmuck ist meist tabu, damit die Seele nicht abgelenkt wird, wenn sie den Körper verlässt.
Dann verabschieden sich die Angehörigen und umkreisen den Toten. Mitunter werden ihm schon jetzt Reisbällchen angeboten, um ihn für die große Reise zu stärken. Anschließend wird der Leichnam mit den Füßen voran aus dem Haus getragen. Der letzte Weg in diesem Leben führt zum Scheiterhaufen.
Die Seele freilassen
Im Hinduismus werden die Toten verbrannt, oft geschieht das sogar noch am Todestag. Nach alter Tradition findet die Verbrennung öffentlich auf einem Scheiterhaufen statt. Diese Art der Feuerbestattung wird auch heute noch praktiziert: etwa in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges. An den weitläufigen Ufertreppen, den Ghats, finden fast rund um die Uhr und jeden Tag Verbrennungen statt.
Traditionell umkreisen die Verwandten den Leichnam vor dem Verbrennen fünfmal und symbolisieren so die fünf Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft und Raum, aus denen der Mensch besteht. Wenn möglich zündet nun der erstgeborene Sohn den Scheiterhaufen am Kopfende an. Jetzt folgt der wichtigste Teil der Zeremonie: Der Schädel des Leichnams wird zerschlagen, damit Atman, die Seele, entweichen kann. Das mutet martialisch an, ist aber essentiell für den hinduistischen Glauben. Nur so kann Atman zu Gott Brahma zurückkehren und wiedergeboren werden.
Die Rituale rund um diese Verbrennungszeremonie können bis zu drei Tage dauern. Viele Hindus glauben, dass der Geist des Verstorbenen in den Tagen nach der Feuerbestattung noch anwesend ist. Sie versorgen ihn daher rituell mit Speisen, bis er im Ahnenreich angekommen ist. Nach drei Tagen werden Asche und Knochenreste dann gemeinsam mit Blumen und Girlanden in einem Fluss oder an einer heiligen Pilgerstätte verstreut. Ist das nicht möglich, kann die Asche in der Erde vergraben werden.
Auf ewig im Ganges: die Ausnahme
Obwohl Hindus eigentlich nur die Kremation kennen, gibt es Ausnahmen: Babys, Kleinkinder oder Schwangere, aber auch Leprakranke oder Bettelmönche werden nicht verbrannt, sondern im Ganges bestattet oder bekommen ein Erdgrab. Wenn es, wie etwa in Österreich, keinen Scheiterhaufen gibt, findet die Verbrennung im Krematorium statt. Auch in diesem Fall werden religiöse Rituale abgehalten, allerdings meist eingeschränkt. Die Zerschlagung des Schädels ist bei uns nicht erlaubt.
13 Tage Trauer und kahlrasierte Köpfe
Der Tod ist für gläubige Hindus keine Bedrohung, getrauert wird aber trotzdem. Das macht man jedoch nicht öffentlich: Keiner soll weinen, wenn die Toten verbrannt werden, keiner soll klagen, wenn die Seele entweicht. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, dass Frauen oftmals von Beerdigungszeremonien ausgeschlossen sind und abseits stehen müssen. Stirbt ein Elternteil, zeigen die Söhne des Verstorbenen ihre Trauer durch eine optische Veränderung und rasieren sich den Schädel kahl.
Traditionell dauert die Trauerzeit im Hinduismus meist 13 Tage, aber es gibt hier unterschiedliche Gewohnheiten. Während der Trauerphase gelten die Familienmitglieder als unrein und schränken deshalb ihre sozialen Kontakte ein. Nach der Bestattungszeremonie waschen und baden sie. Sie bleiben zuhause, fasten und berühren keine anderen Menschen. Mahlzeiten werden von entfernten Verwandten und Freunden gekocht.
Zusätzlich wird den Toten durch Shradda-Rituale gedacht. Diese Zeremonien sollen der Seele helfen, sich vom Körper zu lösen. Dabei kommen pinda, die Reisbällchen, wieder zum Einsatz. Der Priester formt einen großen Reisball, der den Verstorbenen darstellt und drei kleinere Reisklößchen. Diese symbolisieren Vater, Opa und Uropa. Dann wird der große Reisball in Stücke geschnitten und mit den drei anderen verbunden. Die Seele des Toten ist jetzt mit den Vorfahren vereinigt.
An Monats- oder Jahrestagen wird ebenfalls für die Verstorbenen gebetet und es werden Opfer gebracht. Hier ist glücklich, wer Söhne hat, denn an dieser Zeremonie dürfen nur Männer teilnehmen. Sie sammeln dadurch wieder Karmapunkte – für das nächste Leben.