Text und Bilder: Andreas Lesti
Andreas Lesti schreibt für das ASI Reisen Magazin immer wieder spannende Berichte. Dieses Jahr war er auf dem Fernwanderweg GR 221 unterwegs. Was er dort erlebt und gesehen hat, wie der Ablauf seiner Reise war und welche Ausblicke man im gebirgigen Norden Mallorcas einfangen kann, erfahrt ihr in diesem Reisebericht.
Erfahre mehr über den GR 221
Sie nennen es Anwandern
Im April beginnt die Wandersaison: Zumindest für all jene, die auf dem GR 221 auf Mallorca unterwegs sind. Eine Komfort-Wander-Woche im Tramuntana-Gebirge, mit einsamen Gipfeln und versteckten Pfaden, aber auch mit kultigen Bars, legendären Tankstellen, hübschen Bade-Stränden und edlen Unterkünften.
Wir könnten nun erzählen, dass wir in dieser Woche auf Mallorca an einer Tankstelle vom Zaubertrank gekostet haben, dass wir mit Stirnlampen durch die Nacht geklettert sind, uns in einem Lorbeerwald verlaufen haben, in einer Bar das Zentrum der Welt gefunden haben und bei dichtem Nebel durch eine Schlucht gewandert sind. Aber das würde uns eh niemand glauben, also beginnen wir die Geschichte besser von vorn.
Erster Tag: Schnuppern
Also: Freunde hatten uns erzählt, dass man auf Mallorca ganz gut wandern kann. Jaja, dachten wir insgeheim, vom Strand zum Hotel und vom Zimmer zum Restaurant, mit Flipflops und Restalkohol. Aber sie meinten es ernst und erzählten vom GR 221, einem Weitwanderweg, der durchs Tramuntana-Gebirge führt, das sich auf der Nordseite quer über die Insel zieht und sich fast 1500 Meter Höhe über das Meer, die Küste, die Flipflops und den Restalkohol erhebt. Und so finden wir uns nun in Banyalbufar, dem kleinen Küstenort auf dem GR 221 wieder.
Dichter Nebel, 20 Meter Sicht, Nieselregen, düstere Steineichen und Zitronenbäume als gelbe Farbsprenkel im milchigen Grau. Als sich der Vorhang kurz öffnet sehen wir hinunter aufs aufgewühlte Meer. Es gibt keinen Horizont, weil die Wasseroberfläche undefinierbar in den Himmel übergeht. Der Pfad nach Esporles verschwindet unter flechtenüberzogenen Bäumen und fühlt sich deutlich mehr nach Nebelwald-Expedition als nach Mallorca-Urlaub an. Zwei Wanderer kommen uns entgegen. Ihre Führerin deutet ins Grau und beginnt einen dieser typischen Schlechtwetter-Wanderführer-Sätze: „Hier würdet ihr normalerweise…“ Die Luft riecht nach Harz und Regen.
Zweiter Tag: Suchen
Auch für Mallorcas Berge gilt der Grundsatz: Das Wetter kann sich schnell ändern. Ein Glück, denn heute fallen schon morgens Sonnenstrahlen schräg ins Zimmer und der Nebel des Vortages ist nur noch eine vage Erinnerung. 19,5 Kilometer und 1.100 Höhenmeter sind es von Esporles über Valdemossa nach Deiá und nach dem Spaziergang von gestern ist das der eigentliche Einstieg in die Wandersaison. Die ist auf den Balearen schon voll im Gang, wenn man zuhause gerade darüber nachdenkt, die Ski in den Keller zu stellen. Oder, um es mit einer – an das „Angrillen” und „Anbaden” angelehnten – Wortschöpfung zu sagen: „Anwandern“ auf Mallorca.
Andererseits klingt das viel zu harmlos für das, was uns heute erwartet: Zuerst zwingt uns „selfguided“-Wanderer der nur mit Steinmännchen markierte Weg durch einen Lorbeerwald hinauf zum Basseta-Sattel immer wieder zur GPS-Tracks-Navigation per Handy. Dass man sich auf Mallorca verlaufen kann, hat uns zuvor niemand gesagt. Immerhin helfen die Fernblicke auf beide Seiten der Insel bei der Orientierung: auf der einen Seite der markante Galatzó, auch das „Matterhorn Mallorcas“ genannt, auf der anderen Seite Palma, von wo die Kreuzfahrtschiffe wie aus einer anderen Galaxie heraufblitzen.
Doch der Massentourismus holt uns schneller ein als wir „Pauschaltourismus“ sagen können. Mittags in Valldemossa beobachten wir das Touristengewimmel wie Eremiten, die sich vor langer Zeit von der Zivilisation abgewandt haben: die wuselnden Kinder vor den Eisdielen, die angespannt fotografierenden Männer und ihre Frauen, die die Postkarten-, Halstuch- und Sonnenbrillenständer belagern als gäbe es sie morgen nicht mehr. Dann verschwinden wir wieder in der Einsamkeit des Waldes, wandern auf einem Karrenweg über bemooste Felsen, und die einzigen Geräusche kommen von den zwitschernden Vögeln und dem Wind, der den Regen des Vortages von den Bäumen bläst. Oben, auf dem Artiges-Plateau, sehen wir das Meer und der Wind peitscht Schafe und Wanderer vor sich her.
Am späten Nachmittag sitzen wir in Deià in der „Sa Fonda“-Bar unter einem Schild mit der Aufschrift „silence is sexy“. Wir blicken in die Berge und können den steilen Weg, über den wir durch die Felswand abgestiegen sind, nur erahnen. Die „Sa Fonda“-Bar ist keine einfache Bar. Hier waren schon Musikgrößen wie Sting, Bob Geldof, Liam Gallagher und Damon Albarn. Und auch ohne Stars ist das Publikum extravagant. Zu einigen Wanderern gesellen sich Einheimische und Wahl-Mallorquiner, die in Deià ihr Glück gefunden haben. Ein undurchschaubares Trio sitzt an der Steinmauer auf der Terrasse:
- ein ausgezehrter Mann, der an den jungen Mick Jagger erinnert
- ein Teenager-Mädchen mit Nasenring und Trainingsanzug, das gleichgültig raucht und
- ein älterer Mann, der wirkt wie ein vom Leben gezeichneter Bergbauer
Später am Abend lernen wir den Eigentümer Didac Mimó kennen. Er erzählt uns von seinem Vater, der die Bar vor 32 Jahren gegründet hat, von dessen Freundschaft zu Robert Graves, einem britischen Schriftsteller, der immer mehr Bohèmes und Sternchen nach Deiá lockte. Das merkt man dem Ort an: Der Immobilienmakler bietet eine Finca für 10,8 Millionen Euro an und das koreanische Restaurant könnte auch in Barcelona oder Berlin-Mitte sein. „Diese Bar ist ,the place to be’ – das Zentrum der Welt“, sagt Didac überschwänglich, „und die einzige richtige Bar auf dem ganzen GR 221!“ Darauf noch einen „Veterano“!
Dritter Tag: Schreiten
Dem „GR“, wie wir ihn mittlerweile in liebevoller Vertrautheit nennen kann man nicht vorwerfen, er böte keine Abwechslung. Heute führt eine Alternativ-Route über “bens d’Avall” ausschließlich an der Küste entlang, immer ein paar Meter über dem Meer, zwölf Kilometer, wenig Höhenmeter, eine Art „Sa Fonda“-Regenerationsweg. Während wir durch Farne und Kiefern wandern, Weidezäune überklettern und Schluchten durchqueren, brandet unter uns das Mittelmeer an die Felsen. Auf dem Rücken des Cap Gros treffen wir wieder auf den Hauptweg, irgendwo schreit ein Esel wie ein kaputt gehender Motor und vor einer Finca verkauft ein Mädchen im Trainingsanzug frisch gepressten Orangensaft. Es ist die Teenie-Göre aus der Bar – die Welt ist klein auf dem GR.
Die Urlaubswelt von Port de Sóller dagegen wirkt wieder wie ein kleiner Kulturschock, ein sehr angenehmer allerdings: am Strand kühlen wir mit einer Dose Estrella in der Hand die Füße im 17 Grad kalten Meer, beobachten die in die Bucht einlaufenden Luxus-Yachten und gehen später hinüber ins historische „Es Port“-Hotel, dessen 4-Sterne-Komfort wir für eine Nacht genießen werden. Doch der GR 221 sitzt uns im Nacken: Wir müssen nur nach oben schauen, dann sehen wir direkt auf den Puig Major mit seiner markanten Kuppel und den Penyal des Migidas, dessen dunkles Gipfeldreieck ihn zur „Eiger-Nordwand Mallorcas“ macht. Und der GR, das können wir genau hören, ruft uns zu:
„”Genießt den Ferien-Luxus, aber schon morgen hab‘ ich euch wieder!“
Vierter Tag: Stochern
Eine über 100 Jahre alte Nostalgie-Straßenbahn bringt uns von Port de Sóller nach Sóller, sechs Kilometer, die wir uns sparen, ein großes Vergnügen und Glück, denn heute geht es über 20 Kilometer fast 1.000 Meter bergauf zur Tossals-Verds-Hütte. Zumal wir schon in den Zitronen- und Orangen-Plantagen von Sóller die dichten Wolken über dem Tramuntana-Gebirge sehen. Angeblich sind es 1962 Stufen (wir haben das nicht überprüft!), die uns durch die ikonografische Biniaraix-Schlucht dort hinaufführen. Die meisten Wander-Bilder vom GR 221 sind in dieser Schlucht entstanden.
Die Stufen, die Trockenmauern, die Felsen und Gumpen des Baches und der Vegetationsmix aus Mispeln, Wolfsmilch, Meerzwiebeln, wildem Rosmarin und dem Liliengewächs „Mallorquinischer Schnee“ machen diese Schlucht zum Aushängeschild des Weges. Die Folge ist, dass diese Etappe entsprechend frequentiert. Deutsche Familien und Paare steigen mit uns auf, Mallorquiner und Franzosen kommen uns entgegen. Aber auf dem GR ist immer noch wenig los, wenn man ihn beispielsweise mit dem Transalpweg E5 vergleicht: Dort sind rund 20-mal mehr Menschen unterwegs.
Auf rund 800 Meter Höhe verschwinden wir im Nebel, der Wanderweg verliert sich im Grau, der Cúber Stausee in Milchglas-Optik und der Puig Major, Mallorcas höchster Gipfel, steckt irgendwo in den Wolken. Wetter und Wegstrecke stehen den Ankömmlingen auf der Tossals-Verds-Hütte ins Gesicht geschrieben: „Das war der schlimmste Tag“, sagen zwei sichtlich erschöpfte junge Frauen, andere holen sich bei Wirt José erst mal ein Bier, um dann an den großen Tischen miteinander zu plaudern, Abend zu essen und dann noch ein paar Bier zu trinken, um die Nacht im Matratzenlager zu überstehen.
Fünfter Tag: Steigen
Wie schön die Hütte gelegen ist zeigt sich erst am sonnigen nächsten Morgen. Im Stil einer Finca steht sie zwischen Olivenbäumen und im Hintergrund erhebt sich der Puig de s’Alcadena wie ein venezuelanischer Tafelberg. Unser erstes Ziel des Tages: die Massanella, mit 1365 Metern der höchste begehbare Gipfel Mallorcas (der Gipfel des Puig Major ist Sperrgebiet). Ab dem Col des Prats wird die Tour zu einem erstaunlich alpinen Unternehmen, das Orientierungsvermögen, Schwindelfreiheit, Trittsicherheit und kurze Klettereinlagen über scharfkantige Karstfelsen erfordert. Wie im Hochgebirge pfeift uns ein ziemlich kalter Wind um die Ohren und wir ziehen alles an, was der Rucksack hergibt. Nein, unterschätzen sollte man Mallorca nicht.
Die Repsol-Tankstelle liegt am Col de Sa Bataia an der Straße zum Kloster Lluc und würde in einen Tarantino-Film passen. Zu ihr gehört nämlich das Restaurant von Juan Vallori Munar, einem Mann mit buschigen Augenbrauen und Goldkette und der Fähigkeit, einen alkoholischen Zaubertrank zuzubereiten, der ihm den Namen Miraculix eingebracht hat. Und dazu gibt es eines der besten „Cabritos“ (Zicklein) auf der ganzen Insel. All das verpassen die Autofahrer, die hier nur kurz tanken und die Hundertscharen von Radfahrern, die ihre Trinkflaschen auffüllen und sich nur mit Kaffee und Kuchen stärken.
Wir Wanderer dagegen, die wir heute die Massanella überquert haben, haben schon um vier Uhr nachmittags einen Bärenhunger und sitzen nun an einem der hinteren Tische und sehen Juan zu, wie er sein Gebräu zubereitet: Er gibt Mastix-Kraut, Zitronenschalen, Zimt, Zucker, Kaffeebohnen und Rum in eine Schale und zündet alles an, während er aus seinem Leben erzählt. Von seinen Eltern, die hier in den Bergen noch geköhlert haben, von den Schmugglern, die hier früher über den Pass kamen und davon, wie er selbst vor 19 Jahren Tankstelle und Restaurant übernommen hat und es zu einem der überraschendsten Einkehrorte gemacht hat, die man sich als Wanderer vorstellen kann.
Sechster Tag: Staunen
Den besten dramaturgischen Kniff, das muss man dem GR 221 lassen, hat er sich für den letzten Tag aufgehoben. Wenn die Wanderer gedanklich schon auf der Rückreise sind, hat er noch den Sonnenaufgang auf dem Puig Tomir als Ass im Ärmel. Deswegen brechen wir heute schon im 5.30 Uhr vom Kloster Lluc auf, fahren erst ein Stück mit dem Auto und gehen dann eine knappe Stunde zu Fuß. Die Stirnlampen flackern durch die Nacht, ein steiler Pfad führt uns auf 1.100 Meter.
Um halb Sieben sind wir oben und der Effekt ist wirklich großartig. Denn wir sind durch die dunkle Westflanke aufgestiegen und sehen erst oben den lila-orange glimmenden Horizont und weit unten die Konturen der Küste: Alcúdia, Pollença (unser Ziel) und das Cap Formentor (der GR 221 soll bald bis zum Cap verlängert werden).
Es ist kalt. Wir sind allein.
Um 6.48 Uhr schiebt sich die Sonne über den Horizont und in der Ferne schweben die ersten englischen Ferienflieger nach Palma. Und im Westen leuchten die Massanella und der Puig Marjor im ersten Licht des Tages. Wir schauen hinüber – und das breite Grinsen wird noch eine ganze Weile bleiben.
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