Verkleidete Männer, die über Babys springen, ein erbitterter Wettkampf um eine tote Ziege, Delikatessen, die Gänsehaut erzeugen: Es gibt Bräuche, die sind so skurril, dass man nur ungläubig staunen kann. “Das glaubst du mir nie!” Ein Bericht von schrägen Traditionen auf der ganzen Welt.
Text: Rosanna Battisti
Illustrationen: Circus. Büro für Kommunikation und Gestaltung
Die Liebe, das Leben und der Tod
Feste werden überall auf der Welt gerne gefeiert – und wenn man die Liebe feiern kann, ist das natürlich doppelt so schön. In der Region Tokamachi City ca. 200 Kilometer nordwestlich von Tokio in Japan wird jedes Jahr am 15. Januar das sogenannte Mukonage-Festival zelebriert. Muko ist japanisch und heißt übersetzt „Schwiegersohn“, nage bedeutet „wegwerfen“ – und genau das passiert dabei auch: Ausgewählte, frisch verheiratete Männer werden mit viel Schwung über einen Hang hinunter in den tiefen Schnee geworfen. Das Festival hat eine über dreihundert-jährige Tradition. Der Legende nach ist es entstanden, weil ein verärgerter Brautvater sich an seinem Schwiegersohn rächen wollte: Durch die Heirat musste die geliebte Tochter nämlich aus dem Heimatdorf fortziehen, sie wurde ihm gestohlen. Heute soll der Brauch vor allem eine glückliche Ehe sichern. Nach dem Bräutigamweitwurf folgt mit „Suminuri“, dem Schwärzen, die nächste Tradition. Um Unheil abzuwenden, bemalen die Frischverheirateten ihre Gesichter mit Asche und rufen dabei „Glückwunsch!“.
Bei einem außergewöhnlichen Brauch in Spanien stehen hingegen Neugeborene im Mittelpunkt: In Castrillo de Murcia in der Provinz Burgos springen Männer in Teufelskostümen und mit Peitsche und Kastagnetten in der Hand über Babys und Kleinkinder, um sie von der Erbsünde zu befreien. „El Salto del Colacho“, der Teufelssprung, wird seit 1621 gefeiert und ist der Höhepunkt der einwöchigen Fronleichnamsfeierlichkeiten. Bis zu 100 Babys werden auf viele weiche Matratzen am Boden gebettet, dann nimmt der „Colacho“ – er symbolisiert den Dämon – Anlauf und springt mit einem Satz über die Kinder. Das sieht nicht ganz ungefährlich aus, Unfälle hat es bisher aber noch keine gegeben. Obwohl das Fest religiöse Ursprünge hat, soll der Teufelssprung heute vor allem vor Unglück und Krankheit schützen.
Die Toten kehren zurück
Nicht nur zur Liebe und neuem Leben gibt es skurrile Bräuche, auch dem Tod wird in allen Kulturen auf ganz eigene Weise begegnet. In Madagaskar werden die Toten alle fünf bis elf Jahre aus der Gruft geholt, um gemeinsam mit den Lebenden ein oftmals sehr kostspieliges Familienfest zu feiern. Bei der „Famadihana“, der Umbettung der Toten, werden die Gebeine der Verstorbenen geherzt, man erzählt ihnen alle Neuigkeiten und stellt ihnen neue Familienmitglieder vor. Es wird getanzt, getrunken und gesungen. Anschließend werden die Toten in neue Leichentücher gewickelt. Das ist ein besonders wichtiger Teil der Zeremonie, denn die Qualität und Farben der Tücher zeigen den Status der Familie.
Der Respekt vor den Ahnen und der Familie ist in ganz Madagaskar tief in der Kultur verwurzelt. Den Brauch, die Toten neu einzukleiden, gibt es aber nur bei zwei Volksgruppen, den Merina und den Betsileo. Das Fest hat nicht nur eine religiöse, sondern vor allem eine gesellschaftliche Bedeutung: Es hält die Familie zusammen.
Brot & Spiele
Schon im alten Rom haben Wettkämpfe die Menschen begeistert: Sieger, Verlierer, ein harter Kampf. Diese Mischung hat bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Mitunter sind die Wettkämpfe, die wir auf Reisen zum ersten Mal beobachten besonders abenteuerlich.
Männer, die um Ziegen streiten
Zwei Mannschaften reißen sich um eine tote Ziege: Das ist Kok Boru, ein spektakuläres Schauspiel und der Nationalsport Kirgistans. Die Teams bestehen jeweils aus vier auf Pferden reitenden Männern, die um eine ca. 35 Kilo schwere, kopflose Ziegenleiche kämpfen. Das Ziel ist es, die Ziege in das gegnerische Tor zu werfen und so möglichst viele Punkte zu holen. Der Sport ist brutal und gefährlich, die Teilnehmer sind Helden. Bei Provinzmeisterschaften stehen nicht selten zehntausende Fans im Stadion. Den Sport gibt es in ganz Zentralasien, den höchsten Stellenwert hat er aber in Kirgistan. Seit 2017 ist Kok Boru bei der UNESCO als immaterielles Kulturerbe registriert. Und die Begeisterung steigt. Bei den Nomad Games 2018 (quasi olympische Spiele für Nomadensport) waren rekordverdächtige 12 Kok Boru-Teams am Start, darunter zwei Teams aus den USA und Frankreich. Gegen die Kirgisen waren aber alle chancenlos.
Meister in brachialen Wettkämpfen sind auch die Mongolen. Sie feiern jedes Jahr von 10. bis 13. Juli das Naadam-Fest, eine Kombination aus Nationalfeiertag und Sportturnier. Die Disziplinen, die dabei am Programm stehen, liegen Dschingis Khans Nachfahren im Blut: Reiten, Ringen,
Bogenschießen und zusätzlich das Schnipsen, eine Art Bowling auf Mongolisch. Sportlicher Höhepunkt sind ganz klar die Ringer. Hier dürfen Frauen nicht teilnehmen und sollen schon durch das klassische Ringerdress mit freier Brust abgeschreckt werden. Beim Wettkampf messen sich dann alle Ringerpaare im Stadion gleichzeitig. Da kann es schon einmal schwierig werden, den Überblick zu behalten.
Weiße Westen und blutige Gesellen
Nicht nur in der Ferne werden besondere Bräuche zelebriert. Das Einzigartige liegt oft ganz nah. In Tirol sind das vor allem die traditionellen Fasnachtsbräuche. Hier sticht Axams hervor. In diesem Dorf oberhalb Innsbrucks findet jedes Jahr am „Unsinnigen Donnerstag“, dem Donnerstag vor Faschingsdienstag, das Wampelerreiten statt. Die „Wampeler“ sind junge Männer, die mit Heu ausgestopfte, weiße Leinenhemden tragen und dadurch einen dicken Bauch (ugs. die „Wampe“) erhalten. Mit Heu im Hemd, kurzem Rock, breitem Ledergürtel und Stock ziehen sie gebückt durch das Dorf. Ihre Gegner sind die Reiter. Diese versuchen, die Wampeler auf den Rücken zu werfen und so das weiße Hemd zu beschmutzen. Die raue Tradition symbolisiert das Winteraustreiben, den ewigen Kampf Winter gegen Frühling.
Alle vier Jahre gibt es zusätzlich zum Wampelerreiten einen großen Fasnachtsumzug, bei dem die wichtigsten regionalen Fasnachtsfiguren – vom Tuxer bis zum Bojazzl – vertreten sind. Besonders mystisch und beinahe bizarr sind aber die „Bluatigen“, die es ausschließlich in Axams gibt: Sie sind mit Tierblut beschmiert und ziehen fauchend und brüllend hinter dem Tod durchs Dorf, um Besucher und Teilnehmer zu erschrecken. Diese Gruppe agiert unabhängig von der restlichen Organisation. deshalb weiß auch niemand vorab, wo und wann die wilde Truppe auftaucht.
Nichts für feine Nasen
Natürlich darf bei solch einzigartigen Spielen auch das Brot nicht fehlen: Damit die kulinarischen Leckerbissen zu den extravaganten Wettkämpfen passen, müssen sie etwas exzentrisch sein. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Stinkbombe, die so explosiv ist, dass sie nicht einmal im Flugzeug transportiert werden darf? Die Rede ist von “Surströmming”. Das ist gegorener Hering, eine schwedische Spezialität. Der Hering wird im Frühjahr gefangen und in großen Fässern mit Salzlake eingelagert. In dieser Mischung vergärt der Fisch, bis er einen Monat vor dem Verkauf in eine Konserve abgefüllt und verschlossen wird. Weil sich die Dose aufbläht und im Extremfall explodieren könnte, haben einige Fluglinien den Transport von Surströmming sogar verboten. Das liegt wahrscheinlich auch an der Angst vor dem fauligen, penetranten Geruch der Spezialität.
In Island kommen Feinschmecker ebenfalls auf ihre Kosten – zumindest jene, die nicht geruchsempfindlich sind: Hier wird fermentierter Grönlandhai, auch Hákarl genannt, aufgetischt. Der Hai wird durch einen Fermentierungsprozess genieß- oder essbar gemacht. Dafür wird er ausgenommen, entgrätet, gesäubert und gewaschen. Das ungewürzte Fleisch wird dann vergraben und über Wochen oder Monate stehengelassen. Anschließend wird es in der Trockenhütte aufgehängt, damit Ammoniak entweichen kann. Gegessen wird Hákarl in kleinen Stücken und mit viel Schnaps.
Spinne, fein frittiert
Wenn es noch etwas exotischer sein soll, ist ein Trip nach Kambodscha eine gute Wahl: Auf Märkten und in Restaurants im ganzen Land werden knusprig gebratene Vogelspinnen verkauft. Die frittierten Tiere waren unter dem Terrorregime der Roten Khmer für die hungernde Bevölkerung ein essentieller Bestandteil in der Küche. Heute ist die kulinarische Delikatesse ein Trendsnack. Mahlzeit!
Nicht umsonst sagt ein altes Sprichwort „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“. Wer also diese Geschichten mit großen Augen gelesen hat und sich nicht sicher ist: „Stimmt das überhaupt?“, für den gibt es nur eine Möglichkeit: Hinfahren und die kuriosen Bräuche selbst erleben.
Bildhinweise: © Rustem Ilyasow,© Quentin Dr auf Unsplash
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