So schmecken die Berge: Am Monte Bondone, hoch über Trento, nimmt Oliviero Smaniotto seine Gäste mit in eine verwunschene Bergwelt. Und zeigt ihnen, mit welchen Zutaten seine Frau Marina das Abendessen zubereitet | Von Andreas Lesti
Selbst wenn man wollte, einen italienischeren Auftakt könnte man sich für diese Geschichte nicht ausdenken: Irgendwo in den entlegenen Trentiner Bergen tritt aus einer kleinen Türe eines rustikalen Steinhauses ein Olivenbauer, ruft laut „Ah!“ und „Oh!“ und „Ciao!“ und „Bandito!“, umarmt einen und noch bevor man „Hallo“ sagen kann, kommt seine Frau hinzu, plappert auf Italienisch drauf los und es ist ihr ganz egal, ob sie verstanden wird oder nicht. Und dann hat man auch schon das erste Glas Lagrein in der Hand, Lupo, der Hund, drückt sich an die Knie und all das fühlt sich an, als wäre man schon ewig hier oben. Es waren gerade mal drei Minuten. „Salute!“ So ist das wenn man Marina und Oliviero Smaniotto besucht. Die beiden sind die personifizierte italienische Gastfreundschaft. Sie leben in Garniga Vecchia, auf halbem Weg zwischen Trento und dem Monte Bondone, auf 900 Meter Höhe, wo sie seit über 20 Jahren ein „Bergwanderhaus“ betreiben und ASI Wandergruppen empfangen. Sie: eine zierlich-kleine, aber bestimmte Person, milde und würdevolle Gesichtszüge, fast immer eine Kittelschürze umgebunden. Er: ein drahtiges Energiebündel, grauer Bart, 68 Jahre alt, lange Brauen über schelmischen blauen Augen. Beide: seit 44 Jahren verheiratet.
Die Aufgabenverteilung ist einfach: Oliviero, der nicht nur Olivenbauer, sondern auch Wanderführer und Winzer, Biologe und Philosoph, Jäger und Fischer ist, führt die Gäste durch die Berge und zeigt ihnen, was die Natur alles zu bieten hat. Währenddessen bereitet Marina das Essen vor. „Cucina biologica“, sagt sie, zu 80 Prozent käme alles direkt aus der Natur; und Oliviero, der gutes deutsch spricht, fügt augenzwinkernd hinzu: „Die beste Köchin der Welt!“, wohlwissend, dass seine Frau all das verarbeitet, was er auf seinen Streifzügen durch die Berge erbeutet: wilden Rosmarin, Wachholder, Steinpilze, Forellen, Rehe und Hirsche. Und alles andere wächst in den Gärten unterhalb des Bergwanderhauses.
Marina verzaubert mit ihren Kochkünsten
Wir gehen in die Stube, ein Gewölbe mit einem langen Holztisch, der vollgestellt ist mit Tellern, Gläsern und Karaffen, deren Inhalt Post-its kennzeichnen: „Lagrein“, „Merlot“, „Chardonnay“. In einer vierten ist das selbstgemachte Olivenöl, das man auf den Teller gießt, leicht salzt und mit Weißbrot tunkt. Wenn man dann noch einen Schluck Lagrein nimmt, der so frisch schmeckt, als hingen die Trauben im Glas, dann schießt die ungetrübte Gewissheit durch den Gaumen ins Gehirn, dass man mit dieser Lebensart 100 Jahre alt werden muss. „Dieser Wein macht kein Kopfweh, egal wie viel Du trinkst“, sagt Oliviero und schenkt nach, nein, er schenkt nicht einfach nach, er füllt die Gläser mit einer Hingabe als handle es sich um flüssiges Gold. „In diesem Wein ist keine Chemie. Ich weiß es sicher, weil ich habe ihn gemacht.“ 1500 Liter Biowein habe er im Keller, die allerdings maximal zwei Jahre hielten. Und so wie Oliviero diese Information präsentiert, nämlich mit Schulterklopfen und einem lauten „Oddio!“, ist es eine Aufforderung, die Sache mit dem Kopfweh ernsthaft zu überprüfen.
Zunächst dürfen wir aber Marinas Kochkünste überprüfen. Sie serviert „strangolapreti“ [Trentiner Spinatklößchen], später Wildschwein mit Polenta und Salami, dann Lamm-Frikadellen mit Radicchio Romano, Zitrone und Parmesan und schließlich Erdbeeren mit frischer Sahne und selbstgemachten „cantuccini“. Alles schmeckt so frisch und natürlich, so unverfälscht und echt, dass man sich fragt, ob man bei all den so genannten Bioprodukten, die man zuhause im Supermarkt kauft, vielleicht immer vergessen hat die Plastikfolie zu entfernen.
Wanderung in den frühen Morgenstunden am Monte Bondone
Glücklicherweise hatte Oliviero Recht: Kein Kopfweh als wir am nächsten Morgen zur Wanderung starten! Wir fahren erst ein Stück mit dem Auto hoch nach Viote, einem Sattel auf 1550 Meter, zwischen Tre Cime und Monte Bondone. Tief unten zeichnet sich im Morgendunst das Etschtal und die Autobahn ab, so weit weg als gehöre das alles zu einer anderen Welt, die wir längst hinter uns gelassen haben. Stattdessen tauchen wir nun in eine stille, entlegene und verwunschene Bergwelt ein, in Olivieros Kosmos. Es ist noch früh in der Wandersaison, der Schnee liegt noch in den Scharten und Hängen, das Schmelzwasser macht aus dem Waldboden einen schmatzenden Sumpf. Und doch drängt der Frühsommer heran: Krokusse, Erika und Leberblümchen sprießen, Vögel zwitschern, Eichhörnchen springen, Ameisen wuseln im Ameisenhaufen. Auf den legt Oliviero ein Taschentuch, klopft ein paar Mal mit der flachen Hand drauf und lässt uns dann den markanten Duft aus dem Taschentuch einatmen. „Weißt Du“, sagt Oliviero [und es klingt wie „waaaisdu“], „das ist das beste Mittel gegen Erkältung!“
An den Flanken der Tre Cime steigen wir über die Almwiesen ein Stück hinauf zum Bocca di Vaiona und noch ein Stück weiter am kalkfelsigen Grat bis zum La Rosta, einem 1837 Meter hohen Aussichtsgipfel. Olivieros Jagdhund Lupo ist mit dabei und rast wie wild geworden den Bergrücken auf und ab. Der Wind pfeift vom Valle dei Laghi, dem Tal der Seen, herauf, dahinter erhebt sich die Brenta- und die Adamello-Gruppe mit ihren Gletschern, im Norden sind die Skilifte des Bondone und im Süden Arco, Riva und der nördliche Ausläufer des Gardasees zu erkennen. Der Tourismus-Trubel ist so nah – und zugleich unendlich weit weg.
Durch eine Senke stapfen wir im Schnee wieder hinunter. Die Luft duftet frisch und würzig, Buchen, Tannen und Birken schimmern im Mittagslicht. „Hier und am Monte Baldo gibt es eine sehr große Pflanzenvielfalt“, erklärt Oliviero. Mehr als 600 verschiedene Arten seien es und „allein die Hälfte aller Orchideenarten Italiens wachsen hier.“ Die Berge sind aber auch ein Nährboden für all die Kräuter und Pflanzen, die Marina zum Kochen benutzt. Um wilden Thymian, Basilikum, Safran oder Bärlauch zu finden braucht man ein „gutes Auge und eine gute Nase“, sagt Oliviero und bückt sich hinunter zu einem unscheinbaren Gewächs. „Junge Buchenblätter. Daraus kann man Salat machen – das ist eine Delikatesse!“, sagt er und wirkt so begeistert wie ein kleiner Junge, dem man gerade ein Eis gekauft hat.
Nach einer Stunde erreichen wir „Il prà de la lorris“, eine kleine „Barraca“ auf einer Lichtung. Es ist windstill, die Wiese steht voller Krokusse und die Sitzbank vor der Hütte im Sonnenschein. Oliviero zaubert von irgendwo den Schlüssel zur Hütte hervor und fragt grinsend: „Rot oder weiß?“ Dann verschwindet er kurz in der Hütte und kommt mit zwei Flaschen Wein und ein paar Plastikbechern wieder zurück. Und dann sitzen wir da, angenehm erschöpft vom Gehen, blinzeln in die sonnenhelle Natur des Monte Bondone, saugen die Bergluft ein und nippen am Wein.
Jemand sagt: „Wir haben es nicht so schlecht erwischt.“ Und Oliviero erwidert: „Wenn ich mit meinen Gästen in die Berge gehe, dann sind sie keine Gäste mehr sondern Freunde.“
Wir sitzen noch lange da, viel länger als geplant, weil wir uns nicht von diesem zauberhaften Ort und wunderbaren Moment lösen können, und weil Oliviero, dieser Tausendsassa, seine Geschichten erzählt. Von den drei Braunbären, die hier leben, aber „völlig ungefährlich“ seien, und davon wie er in diesen Wäldern Gämsen schießt. Von seinen Touren mit ASI Wandergruppen in Sizilien, Sardinien und Cinque Terre und wie er sich, wenn er zur Ruhe kommen will, an Orten wie diesen zurückzieht, um Literatur zu lesen, „zu trinken“, sagt er, weil er sich nur hier in den Bergen voll und ganz auf Dante, Petrarca und Tomasi, aber auch Schiller, Hesse und Thomas Mann einlassen kann. Kurz bevor wir schließlich doch zurück zum Auto gehen holt Oliverio ein Gästebuch aus der Hütte. Er schreibt hinein:
„ Ritorna la primavera con nuove emozione e nuove pensieri.“ – Der Frühling kommt zurück mit neuen Emotionen & neuen Gedanken.
Am frühen Abend sind wir wieder vor der gelben Fassade des Bergwanderhauses in Garnigia Veccia. Die untergehende Sonne strahlt auf die Berge, in denen wir heute unterwegs waren, und selbst Lupo liegt nun erschöpft auf dem warmen Steinboden. Ein Esel iaht und der Nachbar, ein Musiktherapeut und Künstler, ein Freigeist, der gut zu Oliviero und diesem kleinen Dorf passt, bringt Olivenbrot vorbei. Wir sitzen alle an dem runden Steintisch vor dem Haus und unterhalten uns auf verschiedenen Sprachen quer durcheinander. Oliviero spricht gut deutsch, aber sein deutsch ist eben – „Dai!“ – durchsetzt – „Aspetta!“ – von einem – „Come si dice?“ – italienischen Bewusstseinsstrom, einem – „Ah, che cazzo!“ – ständigen lauten Denken: „Sapperlotti!“
Das steckt an und plötzlich ertappt man sich, wie man einen Singsang in die Wörter legt und im Gespräch mit Oliviero Wörter benutzt, von denen man denkt, sie seien irgendwie romanisch: „moderat“ oder „fabriziert“ oder „interpretiert“. Man wirft immer wieder mal ein „Allora“ oder „Va bene“ ein und hat Sätze wie der Mann aus der Kaffee-Werbung im Kopf: „Isch abe gar keine A-u-to.“ Oder wie Giovanni Trapattoni: „Ich habe immer die Schulde über diese Spieler. Ich habe fertig.“ Oder in bester Don-Vito-Corleone-Manier: „Ich mache ihm ein Angebot das er nicht ablehnen kann.“ Und genau in dem Moment, in dem man sich fragt, was das alles bedeutet, was die Bergluft, der Wein und diese „atmosfera italiana“ mit einem anstellt und wie diese kulinarische Wanderwoche noch enden soll, genau in diesem Moment kommt Marina mit einer Karaffe Lagrein aus dem Haus, Oliviero ruft „Oddio Bandito“ lacht breit und legt einem seine Hand auf den Unterarm. „Das Essen ist fertig“, sagt Marina. Und der Abend kann beginnen.