Gletscher sind für Wanderer, Skifahrer und Landschaftsästheten faszinierend, für Skigebiete und Kraftwerke wirtschaftlich wichtig. Sie können mit abbrechenden Eismassen Schaden anrichten oder mit Ausbrüchen der Seen, die sie aufstauen, wie einst im Ötztal oder heute in Buthan, ganze Täler vernichten. Kein Wunder, dass sie auch die Wissenschaft schon lange in ihrem Bann halten. Der Glaziologe Univ.-Prof. Dr. phil. Michael Kuhn bereitet interessante Daten und Fakten über den Mythos Gletscher auf. Wie entstehen Gletscher eigentlich? Und was trägt dazu bei, dass sie konstant kleiner werden? Antworten liefert euch der Gletscher-Experte in diesem Beitrag. Er informiert über die Historie der Alpengletscher, die Fortschritte der Glaziologischen Forschung und die wichtigsten Gletscherarten im österreichischen Alpenraum.
Phänomen Gletscher
Gletscher prägen das Landschaftsbild und sind wichtige Faktoren im Wasserkreislauf der Alpen.
Gletscher bilden sich bevorzugt in Mulden und vor allem dort, wo sich Schnee über mehrere Jahre ablagert, ohne schmelzen zu können.
Zum Aufbau tragen Schneefall, Schneeverwehung und Lawinen bei. Bleibt am Ende des Sommers viel Schnee übrig, verdichtet er sich in wenigen Jahren zu Eis. Dieses verformt sich unter seinem eigenen Gewicht und fließt als Gletscher abwärts.
Je tiefer der Gletscher kommt, desto größer wird die Energiezufuhr aus der immer wärmeren Umgebung.
Er endet dort, wo gerade so viel schmelzen kann, wie als Überschuss aus dem Akkumulationsgebiet (oder Nährgebiet genannt) herabfließt.
Gletscherflächen der Österreichischen Alpen
In den österreichischen Alpen sind derzeit etwa 400 km2 von Eis bedeckt, die Tendenz ist stark abnehmend: 1969 gab es 567 km2, 1998 nur noch 471 km2 Gletscherfläche. Der Verlust ist dabei für tiefer liegende Gletscher stärker als für höhere. Heute sind in allen österreichischen Gletschern noch ungefähr 16 km³ Eis vorhanden, das sind etwa 14 km³ Wasser. Auf die Fläche von ganz Österreich verteilt wären das etwa 170 Liter / m². Dies entspricht dem Niederschlag von zwei Sommermonaten. Die oft gehörte Meinung, die Gletscher seien wichtige Trinkwasserreserven, muss also etwas relativiert werden.
Größte Eisdicken der österreichischen Alpen:
- 230 m auf der Pasterze, dem Gletscher des Großglockners;
- 230m auf dem Gepatschferner im Kaunertal
- 220 m auf dem Hintereisferner im Ötztal
Sorge um unsere Alpengletscher
Im Jahr 2017 sind auf der Zunge bis zu 9 m Eis geschmolzen. Man kann der Pasterzenzunge also nur noch einige Jahrzehnte Lebensdauer geben, auch wenn sie an ihrer dicksten Stelle 230 m Eis hat. (Quelle ZAMG Oktober 2017)
Seit 1894 werden jährlich Längenänderungen an mehreren hundert Gletschern durchgeführt:
- Sie dokumentieren eine allgemein negative Tendenz mit zwei interessanten Ausnahmen:
- um 1920 und um 1980 waren jeweils ca. 75% der österreichischen und Schweizer Gletscher vorgestoßen.
- Gletscher reagieren nicht nur auf die Temperatur, sondern auch auf Niederschlag und Bewölkung
Mythos Gletscher – von Hannibal bis zur Glaziologie
Die Gletscher sind vor mehr als 5.000 Jahren gewachsen und haben Ötzi am Tisenjoch im Ötztal zugedeckt. Es wird vermutet, dass in der sogenannten Römerzeit, als Hanibal von Südfrankreich über die Alpen zog, die Gletscher kleiner waren als heute, sonst wäre ihm die Überquerung vielleicht nicht gelungen.
Mittelalter
Gletscher waren im Mittelalter nicht immer ein Hindernis. Die glatten Flächen waren leichter zu bewältigen als Felsen und Schluchten. Das innere Ötztal wurde deswegen vom Süden aus besiedelt und bewirtschaftet. Die Vintschger haben heute noch das Recht, ihre Schafe im Ötztal weiden zu lassen und treiben sie jährlich über den Hochjochferner von Schnals ins Rofental, bis in die 1960er Jahre auch vom Pfossental über das steile Eisjoch und den Gurgler Ferner. Der Mythos Gletscher hat wohl im späten Mittelalter begonnen.
Kleine Eiszeit
So wird die Epoche bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Die Alpengletscher machten eine Reihe von deutlichen Vorstößen. Diese waren unvorhersehbar, sie bedrohten den Wirtschafts- und Lebensraum der Menschen, die dem ratlos und wehrlos gegenüberstanden. Eine Situation, in der man sich oft ins Mythische oder Religiöse retten möchte. Die Bevölkerung zog mit ihren Pfarrern in Bittprozessionen zu den Gletscherzungen um sie durch ihre Gebete zum Rückzug zu bringen.
Wie kam es zu diesen Gletschervorstößen?
Die älteste bekannte Darstellung eines Gletschervorstoßes wurde 1990 von Kurt Nicolussi in den Archiven des Innsbrucker Museums Ferdinandeum gefunden. Sie zeigt den Vernagtferner im südlichen Ötztal.
Er war mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit aus einem Seitental vorgestoßen und versperrte das Haupttal mit einem Eisdamm. Dahinter hatte sich ein See aufgestaut, der dann den Damm brach und das ganze Tal überschwemmte. Solche raschen Vorstöße (sogenannte Surges) erreichten Eisgeschwindigkeiten bis zu 11 m/Tag und sind in den Alpen sehr selten, im Himalaya oder in Alaska viel häufiger.
Der Vernagtferner stoß 1680 und 1771 wieder ähnlich vor – inzwischen war die Zeit der Aufklärung. Diesmal kam Wissenschaftler Prof. Josef Walcher zum Ort der Gefahr. Er hat hier verschiedene Gegenmaßnahmen versucht und sie in seinem Buch „Nachrichten von den Eisbergen in Tirol“ veröffentlicht. Kurz darauf, 1774 hatten Peter Anich und Blasius Hueber ihren „Atlas Tyrolensis“, eine Karte von ganz Tirol, fertiggestellt und im Rofental vermerkt mit „gewester See”. Auf einer später erschienenen französischen Karte wurde „gewester See“ mit „Lac du Quester“ übersetzt.
Beginn der glaziologischen Forschung
- in Österreich und in der Schweiz: Die Forschung begann als Wissenschaft.
- 19. Jahrhundert: erste physikalische Erklärung des Fließens des Eises, sowie
- Ergänzung durch erste Gletscherkarten von der Qualität der Alpenvereinskarte.
- Es folgten Luftbilder, Radarmessungen, Satellitenaufnahmen
- Erste Laser Scan Aufnahmen der Eisoberflächen mit einigen cm Genauigkeit
In den letzten Jahren wurde mit diesen modernen Methoden ein weltweites Eis- und Gletscherinventar, das sogenannte Randolph Glacier Inventory Version 6.0 erstellt, an dem auch die Universität Innsbruck
mitgearbeitet hat.
Sie enthält eine Reihe von interessanten Zahlen:
- Die beiden großen Inlandeise Antarktis mit 14 Mio km² und Grönland mit 1,7 Mio km², könnten mit ihrem Schmelzwasser den Meeresspiegel um ca. 60 m erhöhen.
- Es gibt 215.547 Gletscher weltweit. Jeder Gletscher der eine Mindestfläche von 1 ha aufweist ist mitgezählt.
- Sie haben zusammen eine Fläche von 706.000 km². Zum Vergleich haben die Alpengletscher 2.092 km², die österreichischen Gletscher rund 400 km².
Gletscherarten im Alpenraum
Gletscher haben ein ganzes Spektrum von Formen und Größen. Im Alpenraum werden Talgletscher, Hängegletscher, Kargletscher oder Plateugletscher voneinander unterschieden. Die folgenden Bilder geben euch einen Eindruck davon, wie die einzelnen Gletscherarten ausschauen. So könnt Ihr auf eurer nächsten Tour die Gletscher selber zuordnen.
Der Hintereisferner mit der Weißkugel. Ein typischer Talgletscher umrahmt von den früher mit ihm verbundenen Hanggletschern. Im Vordergrund links der scharfe Strich seiner Moräne vom Höchststand 1850, rechts der entsprechende Übergang vom Gras zum Schutt.
Der Vorderseeferner in den Lechtaler Alpen ist ein typischer Kargletscher, der alle Kriterien erfüllt: Firngebiet, Ablationsgebiet, Spalten, Jahresschichten. Kargletscher werden jeden Winter bis zu ihrer Schwelle mit Lawinen gefüllt. Erwärmung im Sommer macht ihnen wenig aus.
Hängegletscher können unabhängig vom Klima abreißen, wenn ihre Last zu groß wird, so wie vom Weißhorn bis Randa bei Zermatt.
Der Gepatschferner im Kaunertal ist einer der wenigen Plateaugletscher der Alpen. Aus dem großen Firngebiet fließt sein Eis immer noch mit 50 m/Jahr durch die enge Zunge. Vorne rechts sind Teile des Skigebiets Weißseeferner zu erkennen. Plateaugletschern haben große Flächen mit kleinen Höhenunterschieden. Das heißt, dass eine kleine Höhenänderung der Nullgradgrenze oder der Schneegrenze große Flächen in kurzer Zeit ausapern lässt oder mit Schnee bedeckt. Das war wohl am Hochkönig der Fall, denn dessen Gletscher „Übergossene Alm“ ist heute fast verschwunden. Auch in Obergurgl gibt es die Sage vom Dorf Tanneneh, dessen Bewohner so wie die der Übergossenen Alm in Saus und Braus gelebt haben sollen, bis sie von abgewiesenen Bettlern zum ewigen Einschneien verwunschen wurden.
Wanderbare Gletscher
So hat der damals unverstandene Mechanismus der Gletscheränderungen immer wieder das Gefühl und die Gedanken der Menschen bewegt. Damals war es die Furcht vor dem Vorstoßen der Gletscher, so wie es heute unsere Sorge um das Verschwinden des „Ewigen Eises“ ist, und damals wie heute fasziniert und bewegt uns das Eis der Erde – es ist einen Besuch wert.
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Über den Autor
Univ.-Prof. Dr. phil. Michael Kuhn ist Meteorologe, Geophysiker, Glaziologe und langjähriger Leiter des Instituts für Meteorologie und Geophysik an der Universität Innsbruck. Während seiner Forschungszeit verbrachte er viele Monate auf Forschungsstationen u.a. auf einer Driftstation im Packeis des Arktischen Ozeans und auf einer Plateaustation in der Antarktis. Er hat 1998 das österreichische Gletscherinventar erstellt und die Reaktion von Gletschern auf Klimaschwankungen erforscht.
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